Dhamma Interviews
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Der deutsche Mönch Ajahn Martin lebt in einem Waldkloster in Thailand und verbringt den Großteil des Tages in Meditation. Im Interview spricht er über das Leben in der Abgeschiedenheit und sagt, was Stille eigentlich bedeutet.
Ich brauche Stille wie andere Nahrung brauchen
Interview mit dem Bhikkhu Ajahn Martin von Birgit Stratmann ( Quelle: Zeitschrift "Tibet und Buddhismus 104, 2013")
Sie verbrachten vor Ihrer Ordination 1991 zunächst einige Jahre im Westen. Warum brachen Sie die Zelte hier ab, um in der Waldeinsamkeit Thailands zu meditieren?
A_Martin: Ich wollte den Weg aus dukkha [Pāli für Leiden, Anm. der Red.] herausfinden, das ist der Weg eines Mönchs. Ich habe mich gefragt, wie ich Gier und Hass überwinden kann. Alle Meditationslehrer, die ich fragte, sagten "Loslassen". Aber ich wusste, dass das nicht geht. Irgendwann las ich das Buch Von Herz zu Herz (Straight from the Heart) des thailändischen Meisters Maha Bua. Sofort wusste ich: Zu diesem Meister muss ich!
Welche Erfahrung war das, vom Trubel in die Stille des Waldklosters zu gehen?
A_MARTIN: (lacht)
Das stelle ich mir gar nicht so lustig vor.
A_MARTIN: Doch, das war es! Natürlich war es auch hart, aber es war genau das, was ich suchte. Vorher lebte ich in englischen Klöstern, aber dort wurde vor allem gearbeitet. Dann war ich bei Ayya Khema, aber auch da musste ich von morgens acht bis abends fünf Uhr arbeiten. Dann kam ich zu Maha Bua. Seine Devise ist: Die Arbeit des Meditierenden ist Geh- und Sitzmeditation. Es gibt eigentlich nur Essen, Almosengang und Saubermachen. Hier fühlte ich mich vollkommen verstanden, denn ich wollte intensiv meditieren, um tiefer zu kommen und nicht immer wieder an denselben Problemen hängen zu bleiben.
Was sind das für Erfahrungen in der Stille, sind sie auch schmerzhaft?
A_MARTIN: Nein, das würde ich nicht sagen. Man muss durch Schmerz hindurchgehen. Es gibt zwei Möglichkeiten, mit Schmerz umzugehen: sich wehren oder etwas daraus lernen. Ich habe mich für die zweite Alternative entschieden. Es gibt vor allem körperliche Schmerzen.
Und wie haben Sie das einsame Leben empfunden? Ist das schön?
A_MARTIN: Ja, es ist schön. Die Einsamkeit ist allerdings für die meisten das Problem. Im Waldkloster ist man den ganzen Tag auf sich gestellt. Aber ich bin nicht verloren gegangen, unser Lehrmeister hat immer nach uns geschaut. Er kam zwei Mal am Tag vorbei, um zu sehen, was wir machen. Wenn wir nicht meditierten, drei Mal hintereinander, hat er etwas gesagt. Und wenn das nichts half, hat er die Leute rausgeschmissen. Er war streng.
Bei einer Allensbach-Umfrage von 2009, was die Deutschen am liebsten an ihrem Charakter verändern würden, gaben 67 Prozent an, sie wären gern "viel ruhiger". Gleichzeitig fliehen wir die Stille und tun alles, sie zu vermeiden.
A_MARTIN: Es ist die "Flucht vor der Freiheit", wie Erich Fromm sagte. Ein hoch interessantes Buch, das ich mit 27 las. Hier beschreibt er, dass wir Herdentiere sind und nicht für uns allein leben können. Deshalb gehen wir jeden Kompromiss ein, um zu einer Gruppe dazuzugehören.
Ist das im Waldkloster anders?
A_MARTIN: Ja, im Waldkloster wird man darauf trainiert, allein und frei zu sein. Die Hütten stehen einzeln, so dass man den anderen nicht begegnet. Man sieht sich nur morgens zum Essen und zum Saubermachen.
Kommt man sich nicht nutzlos vor, wenn man den ganzen Tag nur meditiert?
A_MARTIN: Nein, du hast ja eine große Aufgabe: zu meditieren und den Geist zu befreien. Es ist immer der Kampf gegen den inneren Schweinehund. Und je mehr wir die negativen Emotionen herausreißen, um so mehr können wir für andere da sein. Der Weg des Erhabenen ist, das Selbst, die Illusion des Selbst zu überwinden.
Ich fragte ja nicht, ob es nutzlos ist, sondern ob man sich vielleicht so fühlt.
A_MARTIN: Für Westler ist das natürlich die große Frage, vor allem im Waldkloster, wo man nur einmal täglich isst, den ganzen Tag praktiziert und schweigt. Ich habe das aber dort nie empfunden, eher als ich noch hier im Westen war. Tut man etwas was nicht nutzlos ist, wie kann man sich dann nutzlos fühlen?
Oft idealisieren wir die Stille: Wir stecken mitten in dieser verrückten, hektischen Welt und sehnen uns nach Stille. Aber was erwartet uns da?
A_MARTIN: Wir müssen erst einmal den ganzen Müll vor unserem Herzen wegtragen. Die Leute wollen zwar in die Stille, aber diese Arbeit wollen sie nicht machen.
Was ist das für ein Prozess?
A_MARTIN: (schweigt) Sobald du ernsthaft praktizierst, kommst du an jede Grenze der Belastbarkeit – körperlich wie psychisch. Die ersten eineinhalb Jahre hatte ich das Gefühl, dass mir das Wasser bis zum Hals steht, dass ich nicht mehr atmen kann. Die ganzen Schwierigkeiten kommen ja dann, wenn man sich aus der Welt herausbegibt. Dann gilt es, die Dinge zu akzeptieren, mit denen du konfrontiert wirst. Und wenn die gröberen Hindernisse überwunden sind, kommen die feineren: Hass, Gier, besonders Lust. Die sexuelle Begierde ist extrem stark.
Arbeitet man dann mit diesen Emotionen? Manche denken vielleicht ‚Ich gehe in die Stille, da dürfen diese Emotionen nicht sein'. Vielleicht erschrecke ich mich auch vor dem, was ich alles in mir sehe und denke ‚Hier läuft einiges schief'. Aber wenn ich diese Emotionen sehen kann, läuft es doch eigentlich richtig, oder?
A_MARTIN: Ja, dann läuft es richtig, dann wird es interessant. Das bietet die Stille: dass ich mir alles anschauen und damit arbeiten kann. Es ist die einzige Chance, sich davon zu befreien. Die Emotionen sind sowieso immer da, sozusagen in der unteren Schicht des Geistes. In dem Moment, in dem du aufhörst, dich mit den äußeren Dingen zu beschäftigen, werden sie hoch gespült. Sie sind die Grundlage für all unsere Handlungen, warum wir jemandem nachschauen, zum Telefon greifen, ins Internet gehen. Das bekommen wir in dieser lauten Welt normalerweise aber nicht mit.
Nun sind wir in der Stille und haben nichts anderes zu tun, als den Atem oder den Körper zu beobachten. Dann kommen die Emotionen. Die erste Stufe ist, erst einmal zu akzeptieren, dass Gier und Hass in uns sind, und nicht zu sagen: "Ich bin Buddhist und habe so etwas nicht", sondern: "Jedes Lebewesen im Daseinskreislauf trägt Gier und Hass in sich, auch ich". Das zu sehen ist nicht schön. Die meisten ergreifen dann die Flucht, weil sie es nicht ertragen. Sie sehnen sich zwar nach Stille, aber sie wollen sich nicht damit auseinandersetzen, was den Weg zu ihrem Herzen blockiert.
Und wenn man dann weitermacht?
A_MARTIN: Dann kommt man an die Wurzeln heran.
Können wir das allein, oder brauchen wir einen Lehrer?
A_MARTIN: In den meisten Fällen geht es nicht ohne Lehrer. Der Lehrer oder die Lehrerin begleitet einen, holt einen zurück, wenn man die falsche Richtung eingeschlagen hat, und zeigt einem auch, was man übersehen hat. Manchmal tritt er dir heftig auf die Füße und fragt: "Na, tut es weh?" Das ist genau die Aufgabe des spirituellen Freundes, dass er uns zeigt, wo wir festhängen.
Ist es eigentlich zu empfehlen, sich allein über längere Zeit in die Stille zurückzuziehen?
A_MARTIN: Nein, wenn du keinen Lehrer hast und keine Anleitung, kannst du nicht über lange Zeit meditieren. Es mag für ein oder zwei Wochen gehen, wenn du weißt, wie man praktiziert. Darüber hinaus kommt man ohne Anleitung nicht weit.
Man kann sogar die Stille nutzen, um alles Heikle zu umgehen. Dann übt man einfach nur konzentrative Meditation und kommt an die eigentlichen Emotionen gar nicht heran. Wenn man das Gefühl hat, bei der konzentrativen Meditation nicht weiterzukommen, muss man Untersuchungen anstellen. Denn die Emotionen, Gier, schlechtes Gewissen, nicht eingehaltene Ethik usw., hindern einen daran, Fortschritte zu machen. Wenn man hier nicht geschickt ist und mit diesen Emotionen arbeitet, kommt man nicht weiter. Möglicherweise fällt man sogar in eine Depression. Wenn du dann keinen Lehrer hast, der dir wieder heraushilft, sitzt du fest.
Depression ist das eine Problem, Unruhe vermutlich das andere?
A_MARTIN: Ja, extreme Unruhe. Sobald ein wenig Ruhe da ist, werden die Leute total hibbelig: Sie meinen, sie müssten jemanden anrufen, irgendwohin fahren oder sonst was machen. Wenn du keinen Lehrer hast, der dich anweist zu sitzen und der hin und wieder auch vorbeikommt, um zu überprüfen, ob du sitzt, dann geht es nicht weiter.
Was ist eigentlich Stille, vor allem die innere Stille?
A_MARTIN: Wenn sich nichts mehr bewegt.
Was ist das für eine Erfahrung?
A_MARTIN: Wir reden hier von einer inneren Stille, nicht von einer äußeren. Es gib zwei Formen der inneren Stille [nach den Lehren des Pāli-Kanon, Anm. der Red.]: die angrenzende Sammlung und die vollkommene Sammlung. Die angrenzende Sammlung (Pāli: upacara samādhi) ist die Stille jenseits von Gedanken und Erinnerungen. Hier hören die Wahrnehmungen noch nicht auf, aber sie sind nur peripher, sie tangieren uns nicht, sondern werden wahrgenommen, als lägen sie weit in der Ferne. Man hat die Augen geschlossen, hört und fühlt noch, aber reagiert innerlich nicht. In diesem Zustand fühlen wir uns vollkommen sicher. Es bringt so viel Ruhe, Zufriedenheit und Stille mit sich, manchmal auch Freude, die den ganzen Körper durchzieht.
Dann gibt es die zweite Form der Stille (Pāli: appanā samādhi), die erlebt wird, wenn die Versenkung ganz tief geht. Es ist eine innere Stille, und ich habe dafür keinen anderen Ausdruck als "Klares Wissen". Man ist hellwach, aber es gibt keine Objekte, worauf sich das Wissen bezieht. In diesem Zustand hört für den Meditierenden alles auf zu existieren. Zuerst verschwindet der Körper aus seinem Bewusstsein. Manchmal löst er sich langsam auf, zuerst nur unten, dann andere Regionen des Körpers, bis man nur noch den Atem spürt, alle Sinneswahrnehmungen hören auf. Im tiefen Samādhi gibt es kein Zeit und Raumempfinden. Man atmet nicht mehr. Das ist der kritische Punkt bei der Meditiation, denn wenn der Atem aufhört, hat man Angst zu sterben. Dieser Angst darf man nicht nachgeben, sondern man meditiert einfach weiter.
Dazu braucht man viel Meditationserfahrung?
A_MARTIN: Für das Erreichen von Samādhi braucht man vor allem Geduld und Ausdauer. Das muss nicht unbedingt lange dauern. Eine Schweizerin war drei Wochen im Waldkloster, in dieser Zeit schaffte sie es nur bis zur Angrenzenden Sammlung. Erst als sie in Bangkok war und vollkommen loslassen konnte, verbrachte sie die ganze Nacht im tiefen Samādhi. In dem Moment, wo wir kein Interesse mehr an äußeren Dingen haben, sind wir weg.
Wir kennen drei Formen von Samādhi: erstens das kurze Samādhi (Pāli: khanika), da tauchst du ganz kurz in die tiefe Stille ein und kommst gleich wieder heraus. Zweitens die Angrenzende Sammlung (Pāli: upacara samādhi), da sind alle Wahrnehmungen noch vorhanden. Da aber Gedanken und Erinnerungen aufhören, fühlt man sich ganz ruhig. Sobald man die Meditation verlässt, sind die Gedanken natürlich wieder da. Und drittens tiefes Samādhi (Pāli: appanā samādhi), wo alles verschwindet, Raum und Zeit usw. Ob du eine Minute sitzt oder sieben Tage, ist gleich, der Körper regt sich nicht mehr, man könnte ihn zerstückeln, und du würdest es nicht merken.
Die meisten machen den Fehler, nach der Stille und Freude der Meditation zu suchen. Darüber vergessen sie, ihre Arbeit zu machen, d.h. sich auf einen Punkt zu konzentrieren. Meditieren geht wie bei einem Kind, das laufen lernt: Es steht auf, fällt um und beginnt von vorn. Genau so fokussieren wir den Geist auf ein Objekt. Wenn er abschweift, bringen wir ihn zurück, wieder und wieder. Wenn man jeden Tag mindestens ein oder zwei Stunden meditiert, kann man die Angrenzende Sammlung erreichen. Das hört sich nicht großartig an, aber die meisten schaffen es nicht.
Wie praktizieren wir im Alltag?
A_MARTIN: Wenn du zu Hause bist, übst du morgens eine Stunde und abends eine Stunde und "wäscht" den Geist. Alle Eindrücke des Tages werden weggewaschen. Danach reflektierst du, wie der Tag war: Was habe ich gedacht, als ich mir die Zähne geputzt habe, als ich gegessen habe? Wen habe ich getroffen, welche Auswirkungen hatten meine Handlungen usw. Sonst wirst du die Probleme nicht los. Alles Erlebte muss noch einmal hoch geholt werden, damit wir sehen, wie wir selbst die eigenen Probleme aufbauen. Je häufiger wir uns das anschauen, um so eher lassen wir davon ab. Außerdem ist es gut, jedes Jahr zusätzlich zur täglichen Praxis ein oder zwei Klausuren zu machen, um die Erfahrung zu vertiefen.
Wenn wir nun allein zu Hause meditieren und dann keinen Lehrer haben …
A_MARTIN: … dann fallen wir immer wieder auf die kilesas (Handlanger von Gier Hass und Verblendung) herein, denn sie machen uns dies oder jenes vor. Oder man lässt sich von Freunden beraten, die meistens keine Praktizierenden sind, man ist ständig in die Welt eingebunden. Wir brauchen einen Lehrer oder eine Lehrerin! Für manche reicht es, zwei oder drei Mal im Jahr zu einem Meister zu gehen und sich dann an die Ratschläge zu erinnern. Für die gröbsten Dinge reicht es.
Ermöglicht die tiefe Stille dann Einsicht?
A_MARTIN: Ohne Stille ist kaum Einsicht möglich. Je intensiver die Stille, umso leichter kommt die Einsicht. In der ganz tiefen Stille können wir alles durchdringen und sogar durch Wände von Anhaftungen hindurchgehen. Wenn man aus der tiefen Stille kommt, fühlt man sich voller Energie, alle Batterien sind aufgeladen. Diese Stille und Energie nutzen wir, Untersuchungen anzustellen und Weisheit zu entwickeln. Die Einsicht ist wie das Messer, das falsche Auffassungen zerschneidet, die Stille schärft dieses Messer. Ist das Messer sehr scharf, dann brauchen wir es nur anzulegen, es schneidet ganz von allein hindurch.
Man sieht sozusagen durch. Das kann geschehen, weil wir frei von Anhaftung sind. Wenn wir voller Gedanken sind, ist es unmöglich klar zu sehen. Erst die Stille ermöglicht loszulassen.
Hat Stille auch etwas Heilendes?
A_MARTIN: Es gibt die äußere und die innere Stille. Die äußere Stille hat etwas Beängstigendes, weil wir uns selbst begegnen. Die meisten wollen sich gar nicht selbst treffen. Die innere Stille hingegen hat immer etwas Befriedigendes, Erfüllendes, da gibt es keine Einsamkeit. Es gibt keine Gedanken, keine Sorgen, keine Ängste, es ist einfach nur friedlich. Das ist das Schöne, schon in der Angrenzenden Sammlung. Daher fühlen sich die Menschen immer so großartig, wenn sie das erlebt haben. Es geht ein befreites Lächeln über ihr Gesicht.
Muss man sich erst aus der Welt zurückziehen, um dann die innere Stille zu finden?
A_MARTIN: Rückzug ist nicht unbedingt nötig, aber es hilft. Für viele ist es schwierig, sich aus ihrer Umgebung zu lösen. Die Westler haben aber meistens Zweifel. Sie verstehen nicht, dass man ungeheure Geduld und Ausdauer braucht, bis sich Resultate einstellen. Um sich dem zu entziehen, rennen sie lieber zu einem anderen Lehrer, probieren Neues aus und stoßen dann wieder an ihre Grenzen. So rennen sie ihr ganzes Leben herum, von einem Lehrer zum anderen, von einer Tradition zur nächsten. Sie kommen aber nie an die eigenen inneren Hindernisse heran.
Neben dem Zweifel ist unsere "Überbildung" ein großes Hindernis. Wir verlassen uns auf unseren Verstand, statt auf unser Herz. Denken, Erinnern und Sprechen halten uns davon ab, Erfahrungen im gegenwärtigen Moment zu machen. Erfahrung gibt es nur im gegenwärtigen Moment! Die Stille bringt uns mit dem Leben in Kontakt.
Gibt es keine Entwicklung ohne Stille?
A_MARTIN: Nein. Der Weg aus dem Leiden führt über Ethik(sīla = Tugendregeln), Konzentration und Gewahrsam (samādhi) und Weisheit. Ohne samādhi kann man den Weg nicht gehen. Wir müssen uns nach innen richten, tun aber das Gegenteil. Solange wir draußen stehen, können wir das Puzzle unseres Lebens nicht zusammensetzen. Wir müssen zurück zu den Fundamenten, d.h. zum Körper und zu den Gefühlen.
Wir sagen manchmal "Mir geht es schlecht", aber wir wissen gar nicht, wie es uns geht. Vielleicht ist das Gefühl, das wir erleben, etwas Unangenehmes aus der Vergangenheit, an dem wir noch hängen, obwohl es real nicht mehr da ist. So verlängern wir diese Empfindung und merken es nicht. Oft tun wir alles, um es nicht weiter erleben zu müssen. Wir gehen Eis essen oder ins Kino, aber danach ist das Gefühl immer noch da. So schlagen wir die Zeit tot, nur um nicht zu sehen, was da wirklich passiert. Wir leben in Gedanken, Illusionen, Vorstellungen.
Wie können sich Menschen, die ein normales Leben in der Gesellschaft führen, Räume der Stille erobern?
A_MARTIN: Die erste Voraussetzung ist, eine Klausur zu machen, mindestens zehn Tage, besser drei Wochen. Hier nehmen wir zum ersten Mal Kontakt mit der Stille auf. Wir müssen das Süße der Stille kosten und Vertrauen aufbauen, dass Meditation zu etwas führt, was wir suchen.
Was immer wir suchen, ist in unserem Herzen zu finden. Was immer entsteht, entsteht in unserem Herzen. Und ein guter Meditationslehrer zeigt uns den Weg zum Herzen.
Wenn man in einer Klausur eine wertvolle Erfahrung macht – und sei es nur für 10 oder 15 Minuten, so kann das ein Antrieb sein, täglich zu meditieren, auch wenn es nur 45 Minuten am Tag sind, am Wochenende etwas mehr. Es gibt uns Energie und Vertrauen. Gäbe es solche außergewöhnlichen Zustände von Glück, Frieden und Stille nicht, würde niemand diesen Weg gehen.
Was bedeutet Ihnen Stille?
So wie andere Schlaf und Nahrung brauchen, brauche ich die Stille. Das ist meine Lebensenergie. Das heißt nicht, dass ich mich formal hinsetzen muss, um Stille zu erleben. Das ist irgendwann nicht mehr so nötig, aber natürlich wird man sich in die Stille begeben, so oft es geht, weil es nichts Besseres im Leben gibt. Der innere Lärm, der wie ein ständig eingeschaltetes Radio ist, wird abgeschaltet. Leider wissen wir gewöhnlich nicht, wo der Schalter sitzt, daher plärrt das innere Radio unaufhörlich: "Das mag ich, das mag ich nicht. Das muss so sein und nicht anders. Ich meine dies und behaupte das. Jetzt mache ich dies, dann das …" So geht es 24 Stunden am Tag, und nachts träumen wir noch davon. Wie soll da Stille entstehen, wenn wir ständig von den Gedanken tyrannisiert werden?
Und wie zufrieden sind wir, wenn einfach mal Sendepause ist – und sei es nur für 15 Minuten. Je tiefer die Erfahrung von Stille ist, umso kraftvoller ist unsere Motivation zu meditieren. Und so erklimmen wir Berge, über die wir normalerweise nicht gehen würden.